Anhang E: Die Schlacht am Angrivarierwall

E.1 Die für die Lokalisierung der Schlacht am Angrivarierwall zur Verfügung stehenden Informationen

Kurz nach der Schlacht bei Idistaviso, die gemäß dem römischen Schriftsteller Tacitus in der nähe der Weser stattfand, kam es gemäß Tacitus zwischen Ems und Weser zur Schlacht am Angrivarierwall:

„Zuletzt suchten sie sich einen Kampfplatz aus, der vom Fluss und Wald umschlossen war und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand. Auch um das Waldgebiet zog sich ein tiefer Sumpf, nur eine Seite hatten die Angrivarier durch einen breiten Damm erhöht, der die Grenzlinie zu den Cheruskern bilden sollte.“ Über den Zweck dieses Bauwerkes gibt es heute widersprüchliche Ansichten. Es wird vermutet, dass es sich hierbei um eine frühgeschichtliche Grenzbefestigung zwischen Angrivariern und Cheruskern handelte. Allerdings wäre dieser Wall dann die einzig bekannte, wallartig geschützte Grenze, die zwischen zwei Germanenstämmen zu dieser Zeit existiert hätte. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es aber auch denkbar, dass dieser Wall einzig in Verbindung mit dem Feldzug des Germanicus errichtet wurde, um innerhalb der Taktik des Arminius eine strategische Funktion zu erfüllen. (Wikipedia: Angrivarierwall)

Es ist auch zweifelhaft, ob die Angrivarier einen Grenzwall überhaupt hätten betreiben können. Angrivarier und vor allem auch die Cherusker waren keine kleinen Stämme, entsprechend groß waren ihre Territorien, und entsprechend groß war ihre gemeinsame Grenze (sofern diese überhaupt fest definiert war), 30 km bis 50 km müsste diese Grenze mindestens lang gewesen sein. Eine effektive Grenzbefestigung müsste also auch mindestens 30 km bis 50 km lang gewesen sein, da die Cherusker einen kürzeren Grenzwall ansonsten mit nur einem Tagesmarsch hätten umgehen können. Eine effektive Grenzbefestigung hätte auch permanent überwacht werden müssen, die Organisation der Wachmannschaften wäre eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für die Angrivarier gewesen.
Des Weiteren spricht gegen die Funktion des Angrivarierwalls als Grenzwall, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Überreste einer 30 bis 50 km langen Grenzbefestigung bis heute nicht gefunden wurden.

Eine strategische Funktion des Angrivarierwalls im Rahmen einer Schlacht zwischen Germanicus und Arminius ist also sehr viel wahrscheinlicher. Wie oben beschrieben fand die Schlacht am Angrivarierwall zwischen Ems und Weser statt. Da sich eine römische Legion nicht beliebig in Germanien bewegen konnte sondern auf bestehende Wege angewiesen war, müsste sich der Angrivarierwall an einem Altstraßensystem zwischen Ems und Weser befunden haben.

Eine wichtige Indizienkette zum Auffinden der Schlacht am Angrivarierwall ist also ein römisch-germanisches Schlachtfeld an einer prähistorischen Straße zwischen Ems und Weser, bei der ein Wall eine wichtige Rolle gespielt hat.

Ein seit dem Altertum bekannter Handelsweg, der dieses Kriterium erfüllt, ist der Hellweg unter dem Berg. Der Hellweg unter dem Berg verläuft nördlich des Weserberglandes und südlich der ausgedehnten vermoorten Flachzonen Niedersachsens, und führt von Minden über die Ems in die Niederlande.

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Abb. E.1-1: Hellweg unter dem Berg (braun) in Relation zu Ems (hellblau) und Weser (dunkelblau)

Am Hellweg unter dem Berg wurde 1987 in der Kalkrieser-Niewedder Senke von dem britischen Offizier und Sondengänger Major Tony Clunn ein römisches Schlachtfeld entdeckt, die sogenannte Fundregion Kalkriese. Aufgrund einer ergebnisorientierten Fundinterpretation wird Kalkriese mit der Varusschlacht in Verbindung gebracht, eine von Funden unabhängige Theorie die Kalkriese als Ort der Varusschlacht herleitet gibt es jedoch nicht. Da viele Faktoren den Erhalt von Artefakten im Erdboden beeinflussen (z. B. Beschaffenheit des Erdreichs, landwirtschaftliche Nutzung in den letzten Jahrhunderten) ist die Theoriebildung nur auf der Grundlage von Funden bei einem singulären Ereignis wie einer Schlacht in hohem Maße vom Zufall abhängig, mit den entsprechenden negativen Folgen für die Zuverlässigkeit des für die Geschehnisse bei Kalkriese entwickelten Szenarios.

In Kalkriese wurden keine Münzen gefunden, die nach 1 n. Chr. geprägt wurden (Gaius-Lucius-Münzen als Schlussmünzen, Prägezeitraum 2 v. Chr. bis 1 n. Chr.) oder wahrscheinlich von Varus zwischen 7 und 9 n. Chr gegengestempelt  wurden (Asse mit der Schlagmarke VAR), und Gruben, in denen menschliche Gebeine (welche zuvor eine Zeit lang an der Erdoberfläche lagen) und Maultierknochen deponiert wurden, werden mit dem von Tacitus beschriebenen, von Germanicus für die Gefallenen der Varusschlacht errichteten Grabhügel in Zusammenhang gebracht.
Knochen von Menschen zusammen mit Knochen von Maultieren in einer hastig hergerichteten Grube haben aber wenig mit dem Staatsbegräbnis zu tun, von dem Tacitus berichtete. Ohne die Vermutung, dass es sich bei Kalkriese um einen der Orte der Varusschlacht handelt, wäre nach Einschätzung des Verfassers niemand auf die Idee gekommen, dass mit den sogenannten Knochengruben römischen Legionären die letzte Ehre erwiesen wurde.
Auch der Umstand, dass von über 2000 in Kalkriese gefundenen Münzen keine nach der Varusschlacht geprägt wurde, obwohl 8 Legionen des Germanicus das Varus-Schlachtfeld absuchten, und die Anwesenheit einer römischen Legion vor Ort normalerweise immer mit Münzfunden einhergeht, würde bedeuten, dass auch die Germanicus-Legionen kein nach der Varusschlacht geprägtes Geld mit sich führten. Dies würde aber wiederum bedeuten, dass es auf Grund des Abschlussdatums 9 n. Chr. nicht zu entscheiden ist, ob die Münzen in Kalkriese von Varus- oder Germanicus-Legionären verloren wurden.

Kalkrieser Engpass: Überlagerung von mehreren Ereignissen

Zudem wurden bei Kalkriese ungewöhnlich viele Hortfunde von Münzen entdeckt (bisher 7 Hortfunde), zuletzt ein Hortfund von 200 Silbermünzen. Für eine von einem Legionär mitgetragene Geldmenge wäre das zu viel, für eine Legionskasse aber zu wenig. Es würde aber der Geldmenge entsprechen, die ein Zivilist, z. B. ein römischer Händler, mit sich führte.
Auch die in Kalkriese gefundenen Glasaugen (Römische Glasaugen aus Kalkriese) deuten auf einen zivilen Kontext hin. Die Glasaugen sind bezgl. des verwendeten Glases und der Herstellungstechnik sehr inhomogen, was auf den Vorrat eines Handwerkers oder eines Künstlers zur Herstellung von Mobiliar oder Statuen bzw. Büsten hindeutet, alles eindeutig keine militärischen Produkte.
Zusammen mit der hohen Anzahl der Funde von zivilen oder sakralen Gegenständen in Kalkriese ergibt sich das Bild, dass zwei oder mehr Ereignisse zum Gesamtbefund von Kalkriese beigetragen haben: ein militärisches Ereignis was die Waffenfunde erklärt, und ein ziviles Ereignis, was die Münzen und die anderen zivilen und sakralen Gegenstände erklärt. Bei dem zivilen Ereignis könnte es sich um den Überfall auf einen römischen Flüchtlingstreck handeln.

Resultat der Varusschlacht: Migration

Der römische Historiker Cassius Dio berichtet von römischen Stadtgründungen in Germanien: „Städte wurden gegründet und die Barbaren passten sich der römischen Lebensweise an, besuchten die Märkte und hielten friedliche Zusammenkünfte ab“. In diesen Städten lebten demnach hauptsächlich Germanen in einem frühen Stadium der Romanisierung, aber auch Römer haben dort gelebt, z. B. Händler oder Menschen dir im Verwaltungswesen gearbeitet haben. Unter der Stadthalterschaft von Varus wurde durch eine zu schnelle Umformung von Magna Germania in eine vollendete römische Provinz der Unmut wenn nicht gar Hass der Germanen auf die nun als Besatzer empfundenen Römer immer größer. Als Konsequenz hatten Römer im Frühjahr des Jahres 10 als die römischen Legionen nicht mehr in die rechtsrheinischen Gebiete zurückkehrten und den dort lebenden Römern Schutz bieten konnten einen schweren Stand im rechtsrheinischen Germanien und sie mussten fliehen: das Ergebnis der Varusschlacht löste Migration in Germanien aus.

Wie in Kap. 1 diskutiert waren römische Städte waren jeweils in ein agrarisch geprägtes Umfeld eingebettet, welches die Städte mit Lebensmitteln versorgte. Ein sehr guter Standort wäre wie ebenfalls in Kap. 1 diskutiert die Hildesheimer Börde gewesen, also wurde dort auch mit hoher Wahrscheinlichkeit eine römische Stadt gegründet. Da sich in der Hildesheimer Börde aber keine römischen Spuren finden muss die römische Stadt heute überbaut sein, das heutige Hildesheim könnte seinen Ursprung in der römischen Stadtgründung haben.
Für die Flucht der Römer aus Hildesheim nach Westen in Richtung Rhein ist der oben genannten Hellweg unter dem Berg die kürzeste Verbindung gewesen. Da die Flucht der zum Teil wohlhabenden Römer von ihren germanischen Nachbarn nicht unbeobachtet blieb ergab sich daraus auch die Gefahr von Raubüberfällen auf die Flüchtlingstrecks, ein guter Ort die Flüchtlinge abzufangen war der Engpass des Hellwegs bei Kalkriese. Und bei diesen Überfällen auf die römischen Flüchtlinge im Jahr 10 gelangten dann auch die meisten in Kalkriese gefundenen Münzen in den Boden. Sei es weil bei den Überfällen die für die Germanen wertlosen Kupfermünzen (Asse) weggeworfen wurden und nur Silber- und Goldmünzen einbehalten wurden, oder weil einige Römer angesichts nahender Germanengruppen wertvollere Münzen als Hort vergraben haben, um sie evtl. später wieder bergen zu können.
Im Kontext der Flucht aus der römischen Stadtgründung bei Hildesheim gelangte wahrscheinlich auch der Hildesheimer Silberfund in den Boden, ein Hortfund von Silbergeschirr, bei dem eingravierte Benutzernamen zeigen dass mehrere Pesonen ihre Wertgegenstände zusammen im Hort abgelegt haben, um diese bei der Rückkehr nach Hildesheim dann wieder bergen zu können.

Wie unten besprochen fand am Kalkrieser Engpass dann im Jahr 16 eine Schlacht zwischen Römern und Germanen statt, bei der dann die Waffenfunde in den Boden gelangten. Im Rahmen der Vorbereitung des dortigen Schlachtfeldes wurden dann auch die Überreste von bei den Raubüberfällen des Jahres 10 getöteten Römern notdürftig bestattet, die heutigen Knochengruben mit den auffälligen Tierknochen Beigaben.
Tierknochen als Grabinhalt sind aus dem gallo-romanischen Kulturkreis bekannt, z. B. vom Gräberfeld von Wederath-Belginum. Die Sitte der Beigabe von Tieren oder Teilen von Tieren als Speisebeigabe in Gräbern hat sich gemäß G. Mahr aus dem linksrheinischen keltischen Gebiet in das rechtsrheinische übertragen, s. Mahr, G., 1967: Die Latènekultur des Trierer Landes. Berliner Beitr. Vor- u. Frühgeschichte 12 (Berlin 1967). Eine ergebnissoffene Fundinterpretation beinhaltet daher das Szenario, dass es sich bei den Bestattungen um die gallo-romanischer Auxiliarsoldaten handelt, die im Jahr 10 einen römischen Flüchtlingstreck nach Westen begleiteten und bei einem germanischen Überfall getötet wurden. Gallo-romanische Veteranen, die wie in Kap. 1.5 diskutiert im Jahr 16 auf der Seite der Germanen kämpften, haben die Überreste ihrer Landleute dann bei der Schlachtfeldvorbereitung erkannt und bestattet. Dies würde das Vorhandensein von Tierknochen in den Knochengruben erklären.
In Kalkriese wurde aber auch am Fundplatz Oberesch eine 400 m lange Wallanlage gefunden, welche offenbar eine taktische Funktion für die Schlacht bei Kalkriese hatte.

Abb. E.1-2: Rekonstruierter Abschnitt der Kalkrieser Wallanlage anonym, CC BY-SA 3.0

Da aber in keiner der antiken, über die Varusschlacht berichtenden Quellen eine derartige Wallanlage erwähnt wird, ist es relativ unwahrscheinlich, dass die Fundregion Kalkriese im Zusammenhang mit der Varusschlacht steht. Und da die oben genannten Kriterien für die Schlacht am Angrivarierwall bei Kalkriese erfüllt sind (ein für eine Schlacht wichtiger Wall an einer prähistorischen Straße zwischen Ems und Weser), ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass die Fundregion Kalkriese die Lokation der Schlacht am Angrivarierwall ist.

Bei einer wortwörtlichen Interpretation von Tacitus stimmt die Kalkrieser-Niewedder Senke nicht ganz genau mit Tacitus‘ Beschreibung des Schlachtfeldes am Angrivarierwall überein. Allerdings war Tacitus kein Augenzeuge der Schlacht und auf Informationen aus zweiter oder dritter Hand angewiesen, und Tacitus‘ Informanten werden nicht unbedingt seinen eigenen Genauigkeitsanspruch gehabt haben. Wenn man daher Tacitus‘ Beschreibung des Schlachtfeldes am Angrivarierwall abstrahiert, um das bei antiken Quellen immer latent vorhandene Fehlerpotential zu minimieren, ergibt sich in etwa, dass die Umgebung des Schlachtfeldes aus einem fließenden Gewässer, Wald und Sumpfgebieten bestand, und dass Angrivarier und Cherusker dort in räumlicher Relation zu einem Wall standen, was mit den Gegebenheiten der Kalkrieser-Niewedder Senke übereinstimmt. Schlussendlich ist also das relevanteste Detail aus Tacitus‘ Beschreibung des Schlachtfeldes am Angrivarierwall der von den Germanen konstruierte Wall, bei dem wie oben diskutiert eine taktische Funktion sehr viel wahrscheinlicher ist als eine strategische Funktion; bei topografischen Details aus 2000 Jahre alten römischen Beschreibungen Germaniens ist immer eine gewisse Skepsis angebracht, weil diese Stereotype bedienen können, oder schlichtweg die Erzählung ausschmücken sollen (ein Fluss erzeugt im ‚Kopfkino‘ des Lesers bessere Bilder als ein Bach).

Ergänzung 2019: Aktuell (seit 2017) wird der Wall am Oberesch auf Grund des Fundes eines weiteren Walls weiter nördlich (System aus Wall und Spitzgraben, typisches Graben-Wall System einen römischen Marschlagers) geschichtswissenschaftlich als südlicher Wall eines römischen Marschlagers diskutiert, der an die Topografie des Kalkrieser Berges angepasst war und daher eine geschwungene Form hatte. Hierbei stellt sich allerdings zwingend die Frage, wenn es ein römischer Lagerwall war, wieso ihn die Römer am Fuß des Kalkrieser Bergs angelegt haben, wo man von der Anhöhe des Berges fast ungehindert und mit guter Sicht mit Pfeil und Bogen ins Lager hineinschießen konnte? Wie ungünstig es ist ein Lager oder Kastell am Fuße eines Hanges zu errichten zeigt das Limeskastell Osterburken. Als die Bedrohungslage am Limes Ende des 2. Jahrhunderts größer wurde und sich germanische Angriffe verstärkten, wurde das Hauptkastell den Hang hinauf um ein Annexkastell erweitert, so dass das Hauptkastell nicht mehr von oben beschossen werden konnte.
Es stellt sich weiterhin die Frage wieso der Oberesch Wall geschwungen war? Ein gerader Wall war mit einer Schnur abzustecken und daher viel schneller zu bauen, und er war auch leichter zu verteidigen da man den gesamten Wallabschnitt einsehen konnte. Des Weiteren war der Oberesch Wall mit Pfählen stabilisiert, an denen vermutlich auch einen Brustwehr aus Zweiggeflecht befestigt war.
Zudem wurde der Oberesch Wall mit Bolzen beschossen. Der Verfasser hält es für sehr unwahrscheinlich dass die Römer gegen Ende der Varusschlacht noch über funktionierende Torsionsgeschütze verfügten, weiterhin wäre der Einsatz solcher Geschütze innerhalb eines Marschlagers zur Verteidigung eines Wallabschnitts auch nicht sinnvoll gewesen, die Gefahr von ‚friendly fire‘ wäre sehr groß gewesen. Und während die für die Legionäre zur Verfügung stehende Fläche in einem standardisierten, ungefähr rechteckigen Marschlager schnell zu berechnen war, musste die Fläche eines Lagers mit geschwungenen Wällen erst zeitaufwendig berechnet werden.
Zusammenfassend ist zu bemerken, dass zur Zeit wissenschaftlich geprüft wird, ob der für Marschlager standardisierte nördliche Wall mit dem für Marschlager fast schon experimentell anmutende Oberesch Wall zusammengehören. Die Errichtung eines so ungewöhnlichen Marschlagers unter Gefechtsbedingungen widerspräche jedoch jeglicher Vernunft, daher erscheint dem Verfasser die Interpretation des Oberesch Walls als germanische Befestigung des Kalkrieser Engpasses sehr (sehr) viel sinnvoller. Der Verfasser rät auch, von einer allzu ergebnisorientierten Fundinterpretation zu einer ergebnisoffenen Theoriebildung überzugehen. Dies würde der Forschung in Kalkriese neue Impulse geben, und würde sicherlich auch den öffentlichen Forschungsmitteln gerechter werden.

Ergänzung 2022: Außer Informationen über spektakuläre (und werbewirksame und damit Publikum anziehende) Einzelfunde, wie der des römischen Schienenpanzers, ist es ruhig geworden bezgl. Informationen seitens des Museums Kalkriese. Über systematische Forschungen, wie etwa der Dokumentation des kompletten Verlaufs des in den Jahren 2016 und 2017 entdeckten Spitzgrabensystem nördlich des Oberesch-Walls

https://www.wn.de/welt/kultur/wo-sich-die-romer-eingruben-1419791

werden keine Informationen mehr veröffentlicht. Ob die These, dass der Oberesch-Wall Teil eines römischen Lagers war und mit dem nördlichen Spitzgraben zusammenhängt, noch weiterverfolgt wird, ist unbekannt.

Neuigkeiten gibt es jedoch aus dem Bereich der Materialwissenschaft. Forschern des Bergbaumuseums Bochum um Doktorandin Annika Diekmann ist es gelungen nachzuweisen, dass die metallurgische Signatur einiger der in Kalkriese gefundenen Buntmetalle mit der von Funden in Dangstetten übereinstimmt, dass diese also wahrscheinlich in Dangstetten hergestellt wurden, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit im Umfeld der an der Varusschlacht beteiligten 19. Legion, da diese nachweislich eine Zeit lang in Dangstetten stationiert war (Wikipedia: Römerlager Dangstetten). Die untersuchten Fundstücke aus Kalkriese ließen sich weder mit den übrigen an der Varusschlacht beteiligten Legionen (17. und 18.) noch mit den Germanicus-Legionen in Verbindung bringen.

Zu klären ist nun, wie die untersuchten Objekte nach Kalkriese kamen:

– Kamen die Objekte zusammen mit der 19. Legion nach Kalkriese?

– Kamen die Objekte mit einer anderen Legion nach Kalkriese, welche zuvor Kontingente für eine Vexillation gestellt hatte, die zusammen mit Kontingenten der 19. Legion gebildet wurde, und maßgeblich von der 19. Legion ausgerüstet wurde? Hatte die 19. Legion Ausrüstungsgegenstände für eine andere Legion produziert, weil die 19. Legion an einem Ort mit günstigen Produktionsbedingungen stationiert war, und die Ausrüstung der anderen Legion nach einem Kampfeinsatz schnellstens wieder vervollständigt werden musste?

– Kamen die Objekte mit römischen Hilfstruppen nach Kalkriese, welche von der 19. Legion ausgerüstet worden waren? Operierten die Hilfstruppen in Kalkriese zusammen oder unabhängig von der 19. Legion, etwa weil sie zwischenzeitlich einer anderen Legion zugeordnet worden waren? Hatten sich die Hilfstruppen nach der Varusschlacht von den Römern abgewendet und kämpften für eigene Zwecke unter einen Warlord gegen die Römer in Germanien (s. Kap. 1)?

– Kamen die Objekte zusammen mit germanischen Kriegern nach Kalkriese, welche sich nach dem Sieg in der Varusschlacht mit den qualitativ hochwertigen Waffen und Ausrüstungsgegenständen getöteter Legionäre eingedeckt hatte? Der römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet in den Ann. II, 45 vom Krieg der Cherusker unter Arminius gegen die Markomannen unter Marbod im Jahr 17 n. Chr. ausdrücklich, dass Arminius‘ Krieger mit römischen Waffen ausgerüstet waren („… Arminius … wies … auf die den Römern abgenommenen Waffen hin, die immer noch in vieler Hände seien“).

Insbesondere die letztere Option gilt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für jede Germanicus-zeitliche Schlacht, weshalb der Nachweis von Waffen und Ausrüstungsgegenständen der 17., 18. und 19. Legion nur bedingt aussagekräftig für die Bestimmung des Varusschlachtfeldes ist. 

Der Verfasser freut sich auf neue Erkenntnisse aus Kalkriese, möchte aber nochmals darauf hinweisen, dass sich ohne eine von vor-Ort-Fundstücken unabhängige (z. B. die geographischen Gegebenheiten und die Ereignisse der Jahre 9 bis 16 berücksichtigende) Theorie, warum und wie die Varus-Legionen nach Kalkriese kamen, die Einordnung der Fundstücke immer eine ergebnisorientierte Fundinterpretation bleiben wird, wodurch sich nahezu beliebige Szenarien konstruieren lassen. Da es sich bei der Varusschlacht um ein mehrtägiges Marschgefecht handelte, gab es demzufolge auch nicht nur einen Schlachtort, sondern mehrere, und wenigstens einen weiteren davon sollte die Theorie in der Lage sein vorherzusagen. Diese weiteren aufzufindenden Orte sollten sich auf einer Strecke von 30 bis 40 km verteilen, was der Marschleistung der römischen Legionen unter den widrigen Gefechtsbedingungen entspricht. Wenn dann eine weitere metallurgische Untersuchung zeigen würde, dass die metallurgische Signatur der Fundstücke an beiden Orten gleich ist (die Signatur bräuchte sich hierbei noch nicht einmal einer bestimmten Legion zuordnen lassen), würde dies zeigen, dass die Kampfgeschehnisse an beiden Orten zusammenhängen, und auf ein Marschgefecht hindeuten. Da außer der Varusschlacht keine anderen Marschgefechte aus dem römisch-germanischen Krieg bekannt sind, wäre dies ein sehr starkes Indiz dafür, dass es sich bei den Geschehnissen in Kalkriese um die Varusschlacht handelt.
Aktuell, nach 30 Jahren der Forschung vor Ort, ist in der Region jedoch immer noch nur ein Ort mit römischen Funden bekannt, eben das Gelände bei Kalkriese. Hierdurch verdichtet sich der Eindruck, dass es sich bei den Geschehnissen in Kalkriese um eine räumlich begrenzte Schlacht handelt, was nicht der Varusschlacht entsprechen kann, sondern eine Germanicus-zeitliche Schlacht wahrscheinlicher macht.

E.2 Der Verlauf der Schlacht am Angrivarierwall

Von Idistaviso an der Weser kommend rückte Germanicus mit seinen Legionen über den Hellweg unter dem Berg nach Westen vor. Bei Kalkriese gab es zwischen dem Venner Moor und dem Kalkrieser Berg eine natürliche Engstelle, die Arminius zudem noch durch den Wall am Oberesch hatte befestigen lassen, wobei sicher auch der ganze Kalkrieser Berg mit germanischen Kriegern besetzt war. An der Engstelle trat Arminus den Römern mit seiner Hauptstreitmacht entgegen. Die Römer konnten sich auf Grund der Engstelle nicht im vollen Maße formieren und waren erst einmal im Nachteil.

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Abb. E.2-1: Schlacht am Angrivarierwall Ausgangssituation, Vormarsch der Römer (blau), Stellungen der Germanen (rot), Wallanlage am Oberesch (braun), Moor (gelb), Kalkrieser Berg (grün)

Die Bodenübersichtskarte von Niedersachsen zeigt, dass die Umgebung von Kalkriese hauptsächlich aus relativ feuchten Gleyböden besteht, auf denen die Römer wegen des Gewichts ihrer Panzerung zusätzlich im Nachteil waren. Relativ trockenen und festen Untergrund gab es jedoch im Bereich des Hellwegs unter dem Berg entlang eines Flugsandrückens, heute ‚Alte Heerstraße‘, und auf Grund des relativ hoch anstehenden Grundgesteins direkt unterhalb des Kalkrieser Bergs, heute ‚Venner Straße‘.

Abb. E.2-1a: Geologischer Schnitt durch die Kalkrieser-Niewedder Senke (Mengeling, H. (1986): Geologische Karte von Niedersachsen 1 : 25 000, Erl. Blatt 3514 Vörden. – 125 S., 35 Abb., 5 Tab., 7 Kt.; Hannover)

Neben der der Flankensicherung dienenden Bekämpfung der Germanen auf dem Obereschwall, der dazu mit Torsionsgeschützen beschossen wurde, griffen die Römer die Germanen in westlicher Richtung in 2 Stoßkeilen an, wie diskutiert entlang von Korridoren entlang der Alten Heerstraße und der Venner Straße. Das Ziel hierbei war die Umfassung der germanischen Krieger.

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Abb. E.2-2: Schlacht am Angrivarierwall römischer Angriff (blau), Gegenwehr der Germanen (rot), Wallanlage am Oberesch (braun), Moor (gelb), Kalkrieser Berg (grün)

Auf Grund der intensivsten Kämpfe entlang der Korridore an der Alten Heerstraße und der Venner Straße sollten hier auch breit gefächerte und zahlreiche Funde römischer Militärausrüstungsgegenstände zu erwarten sein, was durch die Verteilung der Fundstellen mit römischen Funden bestätigt wird.

Abb. E.2-3: Verteilung der Fundstellen mit römischen Funden in der Fundregion Kalkriese

Die Verteilung der Fundstellen deutet nicht darauf hin, dass sich die beiden römischen Angriffsgruppen vereinigen konnten und die Umfassung der germanischen Krieger somit gelungen wäre. Daraus lässt sich schließen, dass es den Germanen angesichts der drohenden Niederlage gelungen ist, sich vom Ort der Schlacht abzusetzen und die Umfassung zu vermeiden. Die Römer waren also Sieger der Schlacht am Angrivarierwall, ein nachhaltiger Sieg war es allerdings nicht.

Da nicht davon auszugehen ist dass die Germanicus Armee in der Kalkrieser-Niewedder Senke lagerte während die Germanen den Wall bauten, ergibt sich daraus dass die Römer erst eine gewisse Anmarschstrecke zum Schlachtfeld zurücklegen musste. Die Schlacht begann also frühestens am späten Vormittag. Die Größe des Schlachtfeldes lässt darauf schließen dass die Schlacht eine Zeit lang dauerte, also erst am Nachmittag endete. Da die Römer dann erst einmal das Schlachtfeld nach den eigenen Verwundeten und Getöteten absuchten, blieb keine Zeit mehr zum weiter marschieren, und das Marschlager für die folgende Nacht wurde an Ort und Stelle errichtet. In unmittelbarer Nähe des Schlachtfeldes in der Kalkrieser-Niewedder Senke sollten also Spuren eines römischen Marschlager zu finden sein. Auf Grund der feuchten und durch die Kampfhandlungen aufgewühlten Böden wäre es u. U. vorteilhaft gewesen, das Marschlager direkt an den nördlichen Hang des Kalkrieser Berges zu setzen, da hier durch das Gefälle des Berges eine natürlich Drainage des Lagers gegeben war. Der germanische Wall am Oberesch wäre zu diesem Zweck im Bereich des Lagers eingeebnet worden. Ein im Sommer 2016 entdecktes Graben-Wall-System römischer Bauart nördlich des Oberesch Walls könnte dem nördlichen Wall eines derartig plazierten Marschlagers entsprechen. Der nördliche Wall müsste sich dann direkt am Fuß des Kalkrieser Berges befinden wo das Gefälle in die Ebene übergeht (also auf Höhe der roten Markierung in der beigefügten Grafik).

Für die Zeit unmittelbar nach der Schlacht am Angrivarierwall berichtet Tacitus über eine Strafaktion gegen die Angrivarier: „Sofort beauftragte er [Germanicus] den Stertinius mit dem Krieg gegen die Angrivarier, wofern sie sich nicht zuvor unterwürfen. Sie unterwarfen sich, und zwar bedingungslos, und erhielten so für alles Verzeihung.“ (Annalen 2, 22) Dies ist ein weiteres Indiz für die besondere Bedeutung die die Angrivarier während für die Schlacht hatten, nämlich den Bau des taktischen, das Schlachtfeld begrenzenden Wall, der die Römer während der Schlacht in schwere Bedrängnis brachte.